Der Film soll auf zwei Arten lesbar sein. Einerseits ist da die alte Frage: Wie leben wir?, ausgehend auch von der historischen Abendlandidee, derzufolge dieses Abendland angeblich die überlegene Kulturform sein soll. Sich anzuschauen, was aus dem geworden ist, wo wir heute stehen, ob das noch wahr ist. Und da fließt dann natürlich andererseits der Befund ein: OK, so leben wir, aber warum glauben wir, dass wir niemanden anderen daran teilhaben lassen können? Was beschützen wir? Und wie tun wir das? Das Warum wird nicht geklärt, aber man sieht die Mechaniken dahinter, sowohl was das Beschützen des Inneren, als auch das Beschützen vor dem Äußeren betrifft.
Europa in einen Film zu fassen: Das hat mich schon lange Zeit interessiert. Es gab unterschiedliche Versuche, sich dem Thema anzunähern. Eine Linie, die wir lange verfolgt haben, war zum Beispiel das Konzept, Nicht-Orte in Europa zu suchen. Das hat sich dann aber einfach als zu wenig tragend herausgestellt, und zu eingeschränkt, um allein dadurch von Europa zu erzählen. Maria Arlamovsky, die den Film mitentwickelt hat, hat dann begonnen, als Arbeitstitel Abendland statt Europe zu verwenden. Alleine dadurch haben sich auf einmal viele Konturen geschärft und gleichzeitig war die Methode geboren, den Titel doppelt zu deuten und eben nur in der Dunkelheit zu drehen. Das war zunächst auch eine pragmatische Entscheidung, um die Komplexität, die dieses riesengroße Thema hat, vordergründig auf eine einfachere Geschichte einzuschränken: Ein Film über Europa in der Nacht. Damit ist der Film für uns greifbarer geworden, und gleichzeitig sind wir auf Locations gestoßen, die noch viel zugespitzter erzählen konnten, als was uns als grobe Ideen ursprünglich vorgeschwebt ist.
Ja, das hat sich gut ergeben. Selbst wenn die Suche nach Nicht-Orten kein prioritärer Teil des Konzeptes mehr waren - auf einmal waren sie wieder da. Auch wahrscheinlich weil viel von dem, was in der Nacht passiert und was nötig ist, um diesen Apparat Europa am Laufen zu halten, funktionelle, systemerhaltende Tätigkeiten sind, und die verlangen nach funktionellen Räumen.
Ja, so kann man das ungefähr beschreiben. Wolfgang Widerhofer und ich arbeiten ja schon seit Ewigkeiten zusammen. Er hat, abgesehen von einer Ausnahme, wo es zeitlich nicht anders ging, alle meine Filme geschnitten und kennt deswegen meine Art zu drehen. Genauso wie ich seine Art zu schneiden kenne. Also gibt es schon von Anfang an eine hohe Konvergenz, wo man sich nicht sehr viel absprechen muss, und wo Wolfgang auch ein Korrektiv ist. Deswegen ist es in der Praxis immer so, dass wir das Material, das wir gedreht haben, gleich zum Schneidetisch bringen, Wolfgang es nochmal ansieht und beurteilt, und dann wird logisch weitergegangen. Sehr oft ist es ja der Fall, dass ich manches nicht gesehen habe, Details im Material mir entgangen sind, die aber Spuren legen zur weiteren Vorgangsweise. Oder auch Szenen, die für mich zweifellos sind, aber auf einmal am Schnittplatz nicht funktionieren. So passiert eigentlich der ganze Dreh im Dialog. Bei diesem Film ist es noch eine Spur komplexer, weil er ja auch sehr assoziativ und fast wie eine persönliche Reise und eben auch eine Suche von mir angelegt ist. Und durch die Distanz am Schneidetisch vieles schon nicht mehr so nachvollziehbar ist. Bei diesem Film hat es Wolfgang schwerer gehabt, als etwa bei 7915 KM oder UNSER TÄGLICH BROT, wo zumindest ein klar fassbares Thema vorlag. In dem Fall waren es sehr umfangreiche, vielschichtige Dreharbeiten, die sich erst zum Schluss wirklich zu diesem Film entwickelt haben. Das war ein langes Suchen und Versuchen am Schneidetisch, und dieses Fassen eines fast unfassbar großen Themas hat im Endeffekt unheimlich viel Zeit in Anspruch genommen ? im Dreh wie im Schnitt. Aber man spürt, wann ein Film fertig ist und wann nicht. Und solange das nicht erreicht ist, darf man nicht aufgeben. Schließlich ist es doch noch der Film geworden, nach dem ich die ganze Zeit gesucht habe, ohne aber vorher in der Lage gewesen zu sein, das genauer zu formulieren.
Die Kameras, die wir entdeckt haben, die Monitore, die hier ständig das Nachtbild bestimmen, einerseits als Arbeitsplätze, andererseits als Überwachungsmonitore, das sind alles funktionelle Kameras, die ein bestimmtes Ziel verfolgen. Jemanden zu überwachen, oder jemanden zu beobachten. Und die Bilder, die ich versucht habe zu produzieren, sind genau das Gegenteil, es sind offene, weite Bilder, wo man sich in Zwischentönen verlieren kann, die eben nicht nur fokussiert sind auf die Darstellung von dem, was zum Zeitpunkt des Bildes passiert, sondern wo man rundherum als Zuschauer die Möglichkeit hat, Dinge zu entdecken. Ich sehe das auch immer als eine Art Bühne. Was ich versuche zu machen, wenn ich an einen Drehort komme, das ist, sozusagen die Realität gleichzeitig als eine Art Schauspiel wahrzunehmen, und als eine Bühne, auf der Wirklichkeit passiert. Und genauso soll das Bild sein. Man spürt ja auch immer die Situation des Filmemachers, auch wenn ich nie präsent bin. Ich rede nicht, wir halten uns im Hintergrund, und trotzdem weiß man genau: da ist jemand, und der schaut sich das genauso in diesem Moment durch seine Kamera an. Wir tun ja nicht so, als würden wir verdeckt irgendwelche Personen filmen, die sich nicht dessen bewusst sind, dass sie gefilmt werden. Insofern hat das Ganze etwas Theaterhaftes, nur wird das Theater in die Realität hinaus versetzt.
Eine Arbeitsthese war: Europa ist eins. Europa ist zusammengewachsen, wir haben die EU, die zumindest politisch so tut, als ob sie ein Ganzes wäre. De facto haben wir auch keine großen regionalen Unterschiede festgestellt innerhalb von Europa, genauso wie man frei reisen kann, frei drehen kann, haben wir ja auch viele Drehorte nicht nach dem realen Ort, sondern vor allem nach ihrer Funktion ausgewählt: Hier eine Geburtsklinik, dort ein Altersheim. Und wenn ein Altersheim in Wien sagt wir lassen euch nicht drehen und das in Paris ebenso, dann finden wir eben eins in Deutschland. Das sind die Orte, deren tatsächliche Lage weitgehend austauschbar ist. Wo die Sprache, die gesprochen wird, eigentlich nicht relevant ist. Es gibt auch andere Orte im Film, die eindeutig erkennbar sind und die für sich stehen, wie der Petersplatz in Rom oder der Zaun an der spanischen Grenze zu Marokko. Das sind Dinge, die sollen erkennbar sein und die spielen auch als Ort eine Rolle. Die meisten Orte sind aber auch nur eine, ich möchte jetzt nicht sagen Kulisse, aber da gehts weniger um die wirkliche Lokalität der Orte, als vielmehr darum, dass sie als Symbol stehen für etwas, was sowieso in ganz Europa gleich geschieht.
Zum einen: Die Kamera spielt wahrscheinlich tatsächlich meine Rolle. Ich sehe mich auch als jemanden, der beobachtet, aber nicht unmittelbar reagiert. Und Zeit braucht, um zu verarbeiten. Und genauso verhält sich die Kamera auch, die Kamera beobachtet, ist natürlich präsent, genauso wie ich präsent wäre, und es besteht kein Zweifel, dass die Anwesenheit der Kamera die Szene auch verändert. Wir haben auch darüber nachgedacht, ob der Altenpfleger ohne unsere Anwesenheit so freundlich ist zu den Frauen, die er betreut. Wir werden es nie wissen. Aber weil sich jeder automatisch diese Gedanken macht, spielt es auch keine große Rolle mehr.
Ich glaube nicht, dass es jetzt DIE neue Erkenntnis durch das Drehen gab, aber durch das Zusammenwirken der vielen Eindrücke kam es mir vor, dass sich Ahnungen und Befürchtungen brutal bestätigten, kompromisslos, ohne Ausflüchte. Über die Festung Europa liest man und weiß man, aber wenn man es wirklich gesehen hat, geht es einem anders, weil es das Bild dazu gibt. Deswegen war mir auch der ausgedehnte Blick auf den Grenzzaun zu Afrika hinüber, kurz vor Schluss, in dieser Dimension wichtig. Ich will, dass man diese Dinge, von denen man weiß, dass sie im Hintergrund passieren, und deren Abbildung üblicherweise auch bewusst verhindert wird, endlich einmal sieht. Als Impuls, als Diskussionsgrundlage. Hier beginnt der eigentliche Film.
Nikolaus Geyrhalter in einem Gespräch mit Claus Philipp